Konstruktivismus, Dekonstruktion und Metakognition anhand eines Fallbeispiels

Eine Klientin M. beschreibt eine Situation mit einem männlichen Freund A., in dem sie ihn als arrogant und vorwurfsvoll wahrnimmt. Aus vorherigen Sitzungen wurde klar, dass sie sowohl ihren Vater als auch ihren Bruder bereits in ihrer Kindheit als entwertend, dominant und interessenlos an ihr erlebt hat. Sie hat bis heute Schwierigkeiten im Kontakt mit Männern, insbesondere der Partnersuche.
In der Sitzung geht es zunächst darum, dass die Klientin mit ihrem Ärger in Kontakt kommt, denn sie präsentiert das Thema zunächst als Frage, nämlich, warum es Männern schwerer falle als Frauen, Mitgefühl zu zeigen. Erst durch eine Dekonstruktion ihrer Aussage fällt auf, dass es ihr tatsächlich nicht um das Thema geht: erstens, weil ihr klar wird, dass sie sich mit dem Thema gar nicht beschäftigt hat, obwohl sie Gelegenheit dazu gehabt hätte und es sie ja angeblich interessiert. Zweitens, weil sie (durch das Training der emotionalen Wahrnehmng über einen langen Zeitraum in unseren Sitzungen) erkennen kann, dass die Intensität ihrer Emotionen nicht zu der Frage passt: sie spürt viel Wut, präsentiert die Frage jedoch als aus der Neugier entspringend, die sie jedoch nicht fühlen kann.
Assoziativ schafft es M., das Thema mit der Aussage des besagten Freundes, A., zu verknüpfen. Diese sei es, was sie verärgert habe und woraus sie ihre Frage abgeleitet habe. Sie erlebe ihn so, wie sie die meisten Männer oft erlebe: als arrogant und überheblich. Durch unsere vorangegangen Sitzungen mit dem Thema der Projektion, das sie viel beschäftigte, weiß sie um den Akt der Projektion und äußert ihre Unsicherheit darüber, ob sie projiziere oder ihrer Wahrnehmung vertrauen solle: ist A. nun wirklich arrogant und überheblich gewesen oder projiziert sie nur auf ihn, weil er ein Mann ist?
Konstruktivismus und Dekonstruktion
Es ist ein kritischer Moment, denn es zeigt sich hier der Vorschlag, sich selbst in der eigenen Wahrnehmung zu invalidieren. Ich schlage vor, dass es gar keine Entscheidung geben müsse (es handelt sich bei ihrem Angebot um eine falsche Dichotomie): sie könne ja von ihrer Wahrnehmung ausgehen, solange sie die Grenzen der eigenen Subjektivität anerkenne, und wir könnten davon ausgehend gemeinsam versuchen, ihre Wahrnehmung zu dekonstruieren und sie metakognitiv zu analysieren, um herauszufinden, ob sie projiziere oder nicht.
Hier zeigt sich das symbiotische Zusammenspiel von Konstruktivismus, Dekonstruktion, und metakognitiver Analyse. Der Konstruktivmus beschreibt die äußere Grenze dessen, was sie aus ihrer Wahrnehmung schlussfolgern kann: es wird sich, unabhängig von Intensität und geglaubtem Wahrheitsgehalt ihrer Wahrnehmung, keine zuverlässige Ableitung über die Objektivität der Situation herstellen lassen. Das bedeutet, dass die Klientin entlastet wird, denn sie muss nicht von sich fordern, die objektive Realität zu erfassen. Später wird deutlich werden, welche therapeutische Bedeutung das hat.
Die Dekonstruktion im Rahmen der metakognitiven Analyse hingegen erlaubt es ihr, mit ihrer Wahrnehmung zu interagieren und diese zu überprüfen, ohne diese zu invalidieren. Während der konstruktivistische Rahmen hier so etwas wie die die sicheren Außengrenzen des Sandkastens abbildet, ist die Dekonstruktion eine Schaufel, mit der wir zusammen frei buddeln können.
Das verbindende Element der metakognitiven Analyse ist hierbei auch, dass der Prozess von Therapeut und Klient gemeinsam unternommen wird. Diese Verbindung schafft nicht nur weitere Validierung, sondern ermöglicht unterrichtsfreie Erkenntnisprozesse, die als bedeutsamer und bewegter erlebt werden als unterrichtete (z.B. im Rahmen einer Beratung).
Der Prozess der Dekonstruktion innerhalb der metakognitiven Analyse
Die Einladung, ihre Wahrnehmung zu dekonstruieren, ist für M. erst einmal schwer verständlich. Dadurch wird die Einladung präzisiert als Beschreibung dessen, was sie genau wahrgenommen habe, was nicht nur das Gesagte, sondern auch alle nonverbalen Elemente wie Tonfall und Körpersprache, beinhalte. Sie kann nun sagen, dass A. wörtlich gesagt habe: "das habe ich von Anfang an so gemeint". Es wäre in dem Streit darum gegangen, was gesagt wurde. Der Satz selber sei nicht der Grund für ihre Wahrnehmung von A. als überheblich und arrogant. Vielmehr sei es die Art und Weise gewesen. Die Einladung ist hier, dass sie die Art und Weise imitiert - was sie auch tut. Aufgefordert, die Art nun zu interpretieren, sagt sie, dass es auf sie wirke, als würde A. sagen, er habe es von Anfang an so gesagt. Die Art und Weise sei überheblich, denn er tue so, als wisse er es besser als sie.
Aufällig ist hier, dass M. nun etwas ausgetauscht hat. Während sich der Wortlaut von A. noch darauf bezog, was er gemeint habe, ist ihre Darstellung nun so, als ginge es darum, was er gesagt habe.
Ich frage M. zunächst rückversichernd, ob es denn stimme, dass A. das Wort gemeint gesagt habe anstatt gesagt. Sie bestätigt. Dann frage ich sie, ob sie es denn für überheblich halte, wenn A. behaupte, er wisse besser als sie, was er gemeint habe. Sie verneint: es sei klar, dass er besser wisse, was er gemeint habe.
Ich frage sie also, ob es sein kann, dass A. zwar gesagt habe, er habe "es von Anfang an so gemeint", und dass er dabei selbstsicher sprach, da er behauptete, besser zu wissen als sie, wie er es gemeint habe, sie aber den Teil, dass er damit eigentlich meinen würde, er hätte es von Anfang an so gesagt, konstruieren würde. Die Klientin bestätigt. Die Projektion ist nun also klar: die Klientin erschafft sich ein Konstrukt, in dem es darum ging, wie die objektive Realität (wer was wirklich gesagt hat) beschaffen ist, anstatt die subjektiven Wahrnehmungen der Gesprächsteilnehmer in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist die erste große Erkenntnis dieser Sitzung.
M. projiziert auf A., dass er die Wahrheit für sich beanspruche. Also ist sie in Wirklichkeit selber überzeugt davon, die Wahrheit für sich zu beanspruchen. Das ist nicht nur die logische Schlussfolgerung aus der Einsicht in die Natur der Projektion, sondern wird auch deutlich anhand der Sprache von M., die nun immer stärker so wirkt, als wäre die Wahrheit eigentlich in ihrem Besitz - vermutlich, weil durch das Aufdecken der Projektion diese nun rückgängig gemacht wird.
Warum glaubt sie aber, die Wahrheit zu haben? Warum verwickelt sie sich und A. in diese negative Dynamik?
Offenkundig erfüllt der Anspruch auf objektive Wahrheit eine wichtige Funktion für sie, denn es ist ein unbefriedigendes und belastendes Unterfangen, diese ständig von sich zu fordern. Das Leben wäre ja leichter und Kommunikation mit anderen friedlicher, wenn sie sich erlauben könnte, ihre Sicht als ihre subjektive Realität, sprich: Meinung, zu belassen.
M. erhofft sich offensichtlich Validierung, Respekt und auch Wertschätzung dadurch, dass sie ihre Wahrnehmung die Realität abbilde. Vermutlich, weil sie gelernt hat, es für ihre bloße Meinung nicht zu bekommen, hofft sie, dass sie es einfordern und darauf bestehen könne, sofern sie im Besitz von etwas wertvollerem wäre, als nur der eigenen Meinung.
Ich gebe ihr ein großes Stück Erleichterung, was sie in Form von tränen zeigt, indem ich ihr sage: sie muss nicht die objektive Wahrheit erfassen, damit ihre Wahrnehmung eine Berechtigung habe. Die Art und Weise, wie sie wahrnehme und erlebe, sei wichtig für mich - und für andere, die sie liebten - allein aus dem Grund, dass sie so wahrnehme, und unabhängig davon, ob die Wahrnehmung tatsächlich die Realität abbilde, oder nicht.
Dieser Satz erweist sich als der Schlüssel für den Durchbruch, denn nun wird auch M. klar, warum sie sich so in eine negative Dynamik verwickelt hatte: M. funktionierte unter dem enormen Druck und der Annahme, dass ihre Wahrnehmung nicht bloß Wahrnehmung, sondern Wahrheit sein müsste, um Aufmerksamkeit und Validierung zu erfahren.
Sie glaubte, dass sie die fehlende Validierung und das fehlende Interesse an ihr überwinden kann, indem sie ihre Meinung mit etwas höherwertigem, nämlich mit Kenntnis der Realität und damit Anspruch und Recht auf Bezugnahme und Zuspruch, ersetzen könne. Zuspruch und Bezugnahme können hierbei auch Substitute für Validierung und Anteilnahme sein. Dieses Muster erwies sich als äußerst unfunktional und führte wiederholt zu großen Problemen.
Die Erkenntnis, dass in Beziehung bloß ihre Wahrnehmung eine Rolle spiele, unabhängig davon, ob es sich objektiv um Wahrheit handele - was aus konstruktivistischer Sicht auch gar nicht möglich wäre, zu verifizieren - eröffnet für sie eine neue Welt.
Wissenschaft und Beziehung
Es ist nun möglich, zu verstehen, dass Beziehung und Wissenschaft sich grundsätzlich unterscheiden: während die Wissenschaft versucht, die objektive Realität zu beschreiben, ist Beziehung der Versuch, eine Brücke zwischen zwei subjektiven Welten zu schlagen, um die Einsamkeit des Inseldaseins zu überwinden.
Hier geht es nicht darum, was wahr ist, sondern was wahr-genommen wird: die Reflektion eben dessen, d.h. die Demonstration, dass wir das verstehen und mitempfinden, lässt Beziehung entstehen und harmonisch sein.